Traditionen: erfunden, verschwiegen, neu interpretiert

Zweites Themenjahr des Exzellenzclusters untersucht, wie Gesellschaften und Religionen mit Traditionen umgehen – Wie entstehen Traditionen, wie werden sie weitergegeben, verändert oder für Machtinteressen genutzt? – Fallbeispiele vom Alten Ägypten bis zur Weitergabe von Religionen in Familien heute – Themenjahr startet mit öffentlicher Ringvorlesung

Plakat des Themenjahrs "Tradition(en)"
Plakat des Themenjahres „Tradition(en)“
© exc

Traditionen werden in Debatten um Gleichberechtigung, Identität oder Religion oft als statisch dargestellt, sind bei genauer wissenschaftlicher Betrachtung aber ständigem Wandel ausgesetzt. „Traditionen wurden und werden, je nach den Interessen ihrer Trägergruppe, verändert, neu interpretiert, umgeformt, verschwiegen, verschleiert oder gar erfunden“, erläutern die Judaistin Prof. Dr. Regina Grundmann und der katholische Theologe Prof. Dr. Michael Seewald zum Start des zweiten Themenjahres „Tradition(en)“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU. Im Jahresprogramm 2021/22 erörtern Cluster-Mitglieder mit Gästen aus Wissenschaft und Kunst an Fallbeispielen, die von der Antike bis heute reichen, die Entstehung, Überlieferung und den Wandel von Traditionen – etwa in Literatur, Recht und Religion. Erwartet wird die Arabistin Prof. Dr. Sarah Stroumsa von der Hebrew University in Jerusalem als Hans-Blumenberg-Gastprofessorin.

„Gerade in Religionen spielen Traditionsargumente eine bedeutende Rolle“, erläutern die Forschenden. „Judentum, Christentum und Islam berufen sich auf Offenbarungen. Sie nehmen an, Gott habe zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas für alle Zeiten Bedeutsames mitgeteilt, das weitergegeben werden müsse.“ In Offenbarungsreligionen komme daher Personengruppen, wie Priestern, Schrift- oder Rechtsgelehrten, die Überlieferungen festhalten, kanonisieren und auslegen, eine bedeutende Rolle zu. „Auch Religionen, die nicht auf Offenbarungen gründen, betreiben Traditionsbildung: in Form von Ritualen, Erzählungen oder Ämtern, die über Generationen weitergegeben werden.“ Das Themenjahr startet am 2. November mit der Ringvorlesung „Tradition(en)“. Die thematische Bandbreite reicht vom altägyptischen Gott Amun über Tradition und Innovation in arabischer Literatur bis zur Weitergabe religiöser Traditionen in Familien heute.

Innovation durch Tradition?

Die Wissenschaftler entdecken in der Religionsgeschichte immer wieder das Paradox, dass Religionen ausgerechnet ihr Innovationspotential im Rückgriff auf Traditionen, das vermeintlich Beständige, entwickeln. „Manche Religionsgemeinschaften, wie die katholische Kirche, haben geradezu ein Problem mit expliziter Innovation“, so Michael Seewald. „Die Dogmengeschichte kennt viele Beispiele der Innovationsverschleierung. De facto nahm das katholische Lehramt oft neue Positionen ein – im 20. Jahrhundert etwa die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil –, verschleierte aber unter Rückgriff auf vermeintliche Traditionen, dass eine Positionsveränderung stattgefunden hat.“ Regina Grundmann: „Wir sehen in den monotheistischen Religionen ein Wechselspiel von Tradition und Traditionskritik, und zwar nicht erst in der Epoche der Moderne.“ Auch unter den Bedingungen spätantiker und mittelalterlicher Kulturen seien „Verschiebungs-, Umdeutungs- und Kritikvorgänge“ in religiösen Traditionen möglich gewesen. „In nicht wenigen Fällen scheinen sie gar eine unabdingbare Voraussetzung dafür gewesen zu sein, dass religiöse Traditionen weiterbestehen und als ‚Tradition‘ gesehen werden konnten.“

Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Traditionen werden mindestens drei Aspekte unterschieden: „Erstens betrachten wir den Vorgang der Weitergabe oder den Akt der Überlieferung (‚Tradition‘)“, so Michael Seewald und Regina Grundmann, „zweitens die Sachgehalte oder Praktiken des Überlieferten (‚Traditionen‘) und drittens die Akteure oder Trägergruppen der Überlieferung (‚Tradenten‘ und Rezipienten sowie ihr Verhältnis untereinander).“ Das Themenjahr „Tradition(en)“ beleuchtet die drei Perspektiven über verschiedene Epochen hinweg und aus Sicht verschiedener Fächer der Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Das erste Themenjahr 2020/21 des Exzellenzclusters trug den Titel „Zugehörigkeit und Abgrenzung. Dynamiken sozialer Formierung“. (sca/vvm)

Jahresprogramm des Themenjahres „Tradition(en)“

Das Themenjahr beginnt am 2. November 2021 mit der öffentlichen Ringvorlesung „Tradition(en)“ (Teilnahme vor Ort und per Zoom möglich, s. unten). In sieben Vorträgen entsteht ein Panorama von der Antike bis in die Gegenwart, das am Beispiel verschiedener Traditionen die Bedeutung von Überlieferungsprozessen zeigt und das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure bei Tradierungsvorgängen untersucht.

Das Jahresprogramm geht weiter mit der Gesprächsreihe „Tradition(en): interdisziplinär und transepochal“, in der im Sommersemester 2022 Forschende der Philosophie, Soziologie, Evangelischen Theologie sowie der Rechts- und Geschichtswissenschaften miteinander ins Gespräch treten. Sie befassen sich mit den Themen „Tradition und Normativität“, „Tradition und Konkurrenz“ sowie „Tradition und Rationalität“.

Die Hans-Blumenberg-Gastprofessur wird im Sommersemester 2021 von der Arabistin Prof. Dr. Sarah Stroumsa, die an der Hebrew University in Jerusalem lehrt, bekleidet. Sarah Stroumsa forscht zu philosophischen Traditionen der Islamischen Welt des Mittelalters.

Die Ergebnisse eines internationalen Forschungsvorhabens zur Weitergabe religiöser Traditionen in Familien Europas und Kanadas, gefördert von der John Templeton Foundation, werden im Kontext des Themenjahres öffentlich vorgestellt. Eine Tagung des wissenschaftlichen Nachwuchses des Exzellenzclusters beleuchtet „Traditionen im Wandel“.

Die Lesung der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk entfällt.

Die Termine der Veranstaltungen werden frühzeitig bekannt gegeben. (sca/vvm)